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"Was genau bringt Menschen dazu, kritisch und reflexiv über Gender-Themen nachzudenken?"

Herzlichen Glückwunsch zur Promotion, Frau Dr. Moritzen! Wie lautet der genaue Titel Ihrer Promotion?

Von der Abwehr zum Austausch - Entstehung und Förderung von Gender-Reflexivität bei angehenden Fachkräften der Sozialen Arbeit
Konsequenzen aus einer Analyse an einer kirchlichen Hochschule

Mit welcher Forschungsfrage haben Sie sich beschäftigt? Was verbirgt sich hinter dem Titel Ihres Promotionsthemas?

Was geht in einem Menschen vor, der in einer Lehrveranstaltung zum Thema Gender sitzt, auf die Uhr schaut und gähnt? Wie erreiche ich diese Person mit meinen vorbereiteten Inhalten, womit kann ich sie berühren und was aus diesem Seminar hat tatsächlich Relevanz für sie? Wann und wodurch entstehen bei Studierenden reflexive Sichtweisen auf die Gender-Thematik? Was kann und was muss Lehre zu diesem Thema bieten? Ist die Gender-Thematik in Theorie und Praxis so komplex, dass sie Studierende verstört? Wie kann ich den aktuellen Forschungsstand vermitteln und Impulse geben? Was ist im Rahmen von Hochschule und insbesondere einer kirchlichen Hochschule möglich?

Diese Fragen beschäftigen mich als Hochschullehrerin und ich staune immer wieder, wie Lernende sich im Laufe ihres Studiums persönlich und professionell entwickeln. Mein Forschungsanliegen ist es herauszufinden, was genau Menschen dazu bringt, kritisch und reflexiv über Gender-Themen nachzudenken. Deswegen bin ich der Frage nachgegangen, wie Reflexivität im Allgemeinen und Gender-Reflexivität im Besonderen bei angehenden Fachkräften der Sozialen Arbeit entsteht, und welche Faktoren in der Lehre diese Entwicklung befördern. Reflexivität als die Fähigkeit, eigenes berufliches Handeln hinterfragen zu können, halte ich für die zentrale Qualität von Fachkräften in der Praxis der Sozialen Arbeit. Wie Studierende sich diese erringen und welche Bedeutung gerade der Kontext einer kirchlichen Hochschule hierfür haben kann, habe ich am Beispiel der Gender-Thematik erforscht.

Welche besonderen Ergebnisse und Erkenntnisse haben Sie gewonnen?

Die besondere Herausforderung dieser Thematik ist aus Sicht der Studierenden 1. die hohe Emotionalität, 2. der mühsame und oft konträr diskutierte Umgang mit Sprache und 3. die Wahrnehmung von Gender als Nischenthema. Diese drei wichtigen Punkte, die als Herausforderungen gesehen werden können, bestätigen die hohe Komplexität und den fachlichen Anspruch auf hilfreiche Umsetzung von für Klient*innen hilfreiche Angebote. Gerade der Eindruck, den Studierende formulieren, dass Gender-Themen als Nischenthemen gehandhabt werden, steht im Widerspruch zu der herausgearbeiteten Notwendigkeit von Gender-Reflexivität für die spätere Praxis der Sozialen Arbeit. Auch die Tatsache, dass Gender-Reflexivität nicht beiläufig erwerbbar ist, steht im Widerspruch zur Relevanz dieser besonderen Reflexivität für sozialpädagogisches Handeln. Diese beiden Aspekte begründen die Notwendigkeit von institutionalisierten zeitlichen und fachlichen Ressourcen im Studiengang.

Neben den vielen Facetten der Aussagen von Studierenden, die in der empirischen Erhebung formuliert werden, kann zusammenfassend gesagt werden, dass die wesentlichen Erkenntnisse aus der Befragung diese drei Herausforderungen (Emotionen, Sprache, sog. Nischenthema) sind. Förderlich hingegen werden folgende drei markanten Punkte benannt: 1. Die Bedeutung von vielfältigem Austausch, einer Art positiver ,Verstörung‘ und Konfrontation, 2. die Bedeutung der positiven Begegnungserfahrung in Vertrauen und Wertschätzung sowie 3. die Anregung zur Selbstreflexion der eigenen Gewordenheit. Diese Punkte konnten als hilfreiche Förderfaktoren bei der Entwicklung von Gender-Reflexivität herausgearbeitet werden.

Aus den Ergebnissen wird ersichtlich, dass das ‚Erringen’ von Gender-Reflexivität durch Studierende zunächst nach gleichen Mustern wie andere Lernprozesse verläuft und dass zur Anregung keine gänzlich andersartigen Förderfaktoren zu nennen sind. Die Person der Lehrkraft spielt zudem eine wichtige Rolle. Sie muss sich bewusst sein, dass sie zwar förderliche Rahmenbedingungen schaffen kann, die Studierenden sich die Haltung von Gender-Reflexivität jedoch in eigener Verantwortung erarbeiten müssen. Denn die Entstehung von Gender-Reflexivität ist ein Prozess des sich Erarbeitens und Zulassens.

Angehende sozialpädagogische Fachkräfte müssen die Fähigkeit der Reflexivität diesbezüglich erlernen, um den Klient*innen gerecht zu werden und ihre Situation zu verstehen. Denn Klient*innen haben ein Recht darauf, in ihrer Einzigartigkeit und in ihrer Art der Interpretation ihrer Identität anerkannt zu werden. Die Gender-Thematik betrifft eben nicht nur soziale Randgruppen, sondern steht als essenzielles Thema in der Mitte der Gesellschaft. Wenn sich Lehrende damit auseinandersetzen, eröffnet sich die Chance eines Imagewechsels vom problembehafteten, bedrohlichen Thema zu einer lohnenden, lustvollen, sinnstiftenden und inspirierenden Auseinandersetzung mit Fragen der Geschlechtlichkeit.

Der Rahmen einer kirchlichen Hochschule kann als Potential und Chance gesehen werden, den Anspruch auf Reflexivität als Bildungsstandard auch und gerade bei dem Querschnittsthema Gender umzusetzen, reflexionsförderliche Aspekte in Lehre und Organisation weiter zu entwickeln und damit die Qualität des Studiums zu fördern.

Um Studierenden bei der Entwicklung von Gender-Reflexivität zu unterstützen, sind also folgende Faktoren relevant:

  1. Pflege eines bewussten Umgangs mit gendersensibler Sprache
  2. Anerkennung des hohen Emotionsgehalts im Zusammenhang mit der Gender-Thematik und Würdigung der Ursachen dieser Emotionen
  3. Hervorholen von Gender-Themen aus dem ‚Nischendasein‘
  4. Ermöglichung von Austausch, Konfrontation und ‚positiver Verstörung‘ als konstruktives didaktisches Instrument
  5. Schaffen von Raum für positive Begegnungserfahrung ohne Angst
  6. Ermöglichung von biografischer Selbstreflexion

Wie sind Sie bei Ihrer Arbeit vorgegangen?

Nach sehr umfangreicher Vorarbeit habe ich mich für qualitative leitfadengestützte Einzelinterviews und eine moderierte Gruppendiskussion entschieden und diese in Forschungswerkstätten nach der qualitativen Inhaltsanalyse von Kuckartz ausgewertet.

Was hat Sie persönlich dazu motiviert und daran gereizt zu promovieren?

Ich habe mein ganzes Leben lang Weiterqualifizierung angestrebt. In meinen jungen Jahren habe ich erst Schwesternhelferin und dann Erzieherin gelernt, mein Kind großgezogen, dann folgte das Studium Soziale Arbeit, klientenzentrierte Gesprächsführung nach Carl Rogers, eine Ausbildung zur Hospizhelferin, die Ausbildung zur Supervisorin, das Masterstudium Erwachsenenbildung und jetzt die Promotion an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg. Der besondere Gewinn vom Masterstudium und der Promotion ist auch, immer wieder neu in die Rolle der Studentin zu schlüpfen und diese Perspektive wahrzunehmen. Dies ist der Lehre außerordentlich zuträglich.

Vielen Dank!

Dr. Hanna Moritzen M.Edu., Dipl.-Soz.päd. (FH), war seit 2008 Lehrkraft für besondere Aufgaben an der Evangelischen Hochschule Nürnberg. Zum 1. April 2022 trat sie in den Ruhestand. Kürzlich ist ihre Promotion veröffentlicht worden, an der sie in den vergangenen Jahren gearbeitet hatte.

 

Von der Abwehr zum Austausch - Entstehung und Förderung von Gender-Reflexivität bei angehenden Fachkräften der Sozialen Arbeit
Konsequenzen aus einer Analyse an einer kirchlichen Hochschule
Hanna Moritzen (Autorin)
333 Seiten
2022 Fau University Press (Verlag)
978-3-96147-495-0 (ISBN)

Open Access Publikation

Kontakt: hanna.moritzen@evhn.de