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Stellungnahme aus den bayerischen kindheitspädagogischen Studiengängen zu den Plänen von Sozialministerin Scharf zur Verringerung des Fachkräftemangels in Kitas in Bayern

Der Fachkräftemangel in Kindertageseinrichtungen (Kitas) beschäftigt bundesweit inzwischen seit mehreren Jahren die Kita-Praxis, Träger, Politik und Wissenschaft. Er trifft nun auf eine Kita-Praxis, die durch eine knapp kalkulierte personelle Grundausstattung, die Corona-Pandemie sowie den Krieg in der Ukraine an ihre Belastungsgrenze geraten ist. Aktuelle Analysen gehen von einem Fachkräftebedarf für Westdeutschland bis 2030 zwischen 20.000 und 226.000 Personen aus (Autorengruppe Fachkräftebarometer 2021, Bock-Famulla u.a. 2021a). Auch wenn diese Zahlen eine Annäherung an zukünftige Entwicklungen darstellen, stehen Träger und Politik vor der Herausforderung, ausreichend Personal zu gewinnen, um sowohl eine verlässliche frühkindliche Bildung, Betreuung und Erziehung als auch die Ganztagsförderung im Grundschulalter zu sichern.

Auch in Bayern herrscht Fachkräftemangel in Kitas, der sich durch den Rechtsanspruch auf ein ganztägiges Bildungsangebot im Grundschulalter ab 2026 weiter verschärfen wird. In den letzten Jahren hat zwar ein enormer Ausbau an Plätzen und damit auch ein Zuwachs an Personal stattgefunden (Kitas 72 % +, Hort 44 % +), die vorhandenen Plätze reichen aber immer noch nicht aus. Hinzu kommt, dass im Kita-System in Bayern wissenschaftlich begründete Qualitätsstandards hinsichtlich der Personalausstattung noch nicht berücksichtigt sind (Bock Famulla u.a. 2021a, S. 35). Die Bertelsmann Stiftung hat errechnet, dass bis 2030 (abhängig vom Szenario) zwischen 8.700 und 45.600 Fachkräfte in bayerischen Kitas fehlen werden (ebd, S. 38).

Vor diesem Hintergrund sind die Ideen, die Sozialministerin Scharf in der Süddeutschen Zeitung am 29.8.2022 und einem Rundschreiben an Träger und Kommunen präsentiert hat, nachzuvollziehen. Sie möchte mit Hilfe der Experimentierklausel „größere Gruppen in Großtagespflegen und Mini-Kitas sowie neue, an Kitas angegliederten Gruppen“ ermöglichen, um mehr Plätze zu schaffen. Da hierzu aber das Personal fehlt, sollen „neue Einstiegsgruppen“ gewonnen werden, z.B. „die Oma“ oder „jemand, der den Job gerne macht“ (Günther/Süddeutsche Zeitung vom 30. August 2022).

Nachvollziehbar ist, dass Politik und Träger von Kitas unter Druck stehen, die Rechtsansprüche von Eltern zu erfüllen. Aus einer wissenschaftlich fundierten Perspektive, die Professor*innen der kindheitspädagogischen Studiengänge in Bayern vertreten, sind die vorgeschlagenen Maßnahmen jedoch zu kritisieren, da diese die pädagogische Qualität in den Kitas erheblich beeinträchtigen. Denn sowohl die ausreichende Anzahl (Fachkraft-Kind-Relation) als auch die Qualifikation von pädagogisch Tätigen und die Gruppengröße sind zentrale Qualitätsmerkmale für eine gute Bildung, Erziehung und Betreuung in Kitas (Viernickel 2021). Studien zeigen, dass eine hohe Qualität in den Kitas zur Chancengerechtigkeit beiträgt und langfristige, positive Auswirkungen auf die Entwicklung der Kinder haben kann (Anders 2013). Diese drei Merkmale verschlechtern sich jedoch bei der Umsetzung der aktuell vorgesehenen Maßnahmen, so dass die Qualität bayerischer Kitas, z.B. durch eine Vergrößerung der Gruppe, absehbar leiden wird.

Das mittlerweile vorliegende Weiterbildungskonzept des bayerischen Sozialministeriums zeigt, dass v.a. Personen angesprochen werden sollen, die sich erst über berufsbegleitende Weiterbildungsmodule für eine Tätigkeit in der Kita qualifizieren (www.kita-fachkraefte.bayern). Somit ist eine Öffnung für unqualifizierte Personen geplant, die erst von den Fachkräften in den Einrichtungen eingearbeitet werden müssen und nicht direkt zur Entlastung beitragen können. Zudem trägt die „Öffnung nach unten“ nicht zur Steigerung des gesellschaftlichen Ansehens und somit Attraktivität des Arbeitsfeldes bei. Dabei gäbe es auch andere Möglichkeiten, dem Mangel an Fachpersonal entgegenzutreten, die gar nicht in Betracht gezogen wurden.

Auffallend ist, dass es in bayerischen Kitas kaum akademisch qualifiziertes Personal gibt. Während Bayern mit 35,6 % den höchsten Anteil an Ergänzungskräften bundesweit (Personen mit Berufsfachschulabschluss/Kinderpfleger*innen) in Kitas hat, liegt der Anteil bei den Hochschulabschlüssen bei 4,5 %. Damit ist Bayern zwar nicht Schlusslicht, aber die Relation von Fach- und Ergänzungspersonal ist bundesweit am schlechtesten. In Hessen, Sachsen oder Thüringen liegt der Anteil der akademisch qualifizierten Pädagogen dagegen bei knapp 10 % (Autorengruppe Fachkräftebarometer 2021, S. 196). Gerade Kindheitspädagog*innen1, aber auch Sozialpädagog*innen mit kindheitspädagogischem Schwerpunkt oder Grundschullehrkräfte können das Personaltableau in Kitas sinnvoll ergänzen.

Folgende Maßnahmen wären zur Steigerung des akademisch qualifizierten Personals notwendig:

  • Zulassungsvoraussetzungen für akademisch qualifizierte Pädagog*innen erleichtern
  • Berufsbegleitende Anpassungsstudien an Hochschulen speziell für akademisch qualifizierte Pädagog*innen, Erziehungswissenschaftler, Grundschullehrkräfte, die auf ihrem bisher erworbenen Qualifikationsniveau in das Arbeitsfeld Kita einsteigen wollen
  • Anpassungsstudien an Hochschulen für Personen mit ausländischen, pädagogischen Hochschulabschlüssen (die gibt es in Bayern mit dem BEFAS-Programm der Katholischen Stiftungshochschule München, aber die Finanzierung läuft bis Ende 2022 aus und ist dann nur noch für Personen, die in München wohnen, verfügbar)
  • Ausweitung kindheitspädagogischer Studiengänge (auch grundständig) und Finanzierung von mehr Studienplätzen – dadurch Gewinnung von Werksstudierenden und Absolvent*innen

Personen, die im Ausland eine pädagogische Qualifikation erworben haben, haben in Bayern besondere Hürden zu überwinden, um in einer Kita tätig zu werden z.B. Informationsdefizite, hohe Kosten für Übersetzungen und Anerkennungen aber auch die administrative Personalzustimmung der Träger. Zudem braucht es meist eine Anpassungsmaßnahme, um die Fachkraftanerkennung zu erhalten, die aber nicht in ganz Bayern verfügbar ist. Daher sollte für Personen mit ausländischen, pädagogischen Abschlüssen

  • das Anerkennungsverfahren kostenfrei sein,
  • Berufserfahrung berücksichtigt werden,
  • Anerkennungen gemäß der mitgebrachten Qualifikation angeboten werden, also auf Kinderpflege-, Erzieher- und Kindheitspädagog*innenniveau,
  • bayernweit Möglichkeiten der Anpassungsqualifizierung angeboten werden, um die Fachkraftanerkennung zu erhalten.

Weiterhin kann das pädagogische Personal in Kitas entlastet werden, wenn vermehrt Hauswirtschafts- und Verwaltungskräfte eingestellt werden können. Gerade Leitungen haben einen hohen zeitlichen Organisationsaufwand, der dadurch deutlich verringert werden kann und somit für die pädagogische Arbeit frei wird. Darüber hinaus könnten auch Personen, die eigentlich das Ruhestandsalter erreicht haben, in verringertem Umfang weiter beschäftigt werden (z. B. in der LH München praktiziert).

Zuletzt darf nicht vergessen werden, dass ca. ¼ des pädagogischen Personals das Arbeitsfeld Kita innerhalb der ersten 5 Jahre wieder verlässt (Grgic 2019) – vermutlich, weil es frustriert ist, dass es unter den aktuellen Rahmenbedingungen den eigenen Ansprüchen nicht genügen kann (Meyer & Alsago 2021). Daher kommt der Bindung des Personals eine besondere Bedeutung zu. Gerade akademisch qualifiziertes Personal und ambitionierte Erzieher*innen bleiben häufig nicht, weil es keine adäquaten Stellen für eine langfristige Entwicklung in der Kita gibt. Hier könnten bessere Rahmenbedingungen (z.B. bessere Fachkraft-Kind-Relation), Karrierewege im Sinne einer Ausdifferenzierung von Aufgaben in der Praxis (z.B. Praxismentoring als konkrete Aufgabe, Qualitätsbeauftragte, Koordination Sprachliche Bildung) oder eine Entlastung von organisatorischen Aufgaben dazu beitragen, dass Fachkräfte im Arbeitsfeld Kita verbleiben und eine Karriere aufbauen (zu Kosten und Renditen siehe Friederich, Hoch, Huschik & Weßler-Poßberg 2022).

Schließlich ist im Hinblick auf eine differenzierte Weiterentwicklung des Gesamtsystems Kindertagesbetreuung darauf zu achten, auch die Betreuungsform der Kindertagespflege hinsichtlich Qualität und Attraktivität weiterzuentwickeln. Im Gegensatz zu Bundesländern wie Baden-Württemberg, Hessen oder Nordrhein-Westfalen besteht in Bayern etwa im Bereich von gesetzlichen Regelungen und verbindlichen Empfehlungen zur Mindestqualifizierung und Vergütung erheblicher Nachholbedarf (siehe Bock-Famulla u.a. 2021b, Schoyerer et al. 2020). Dabei ist dezidiert zu berücksichtigen, dass die jeweiligen institutionellen Grenzen zu Kindertageseinrichtungen nicht verwässert werden, wie dies aktuell mit den Vorhaben der Ausweitung der Großtagespflegen und Mini-Kitas zu beobachten ist.

Wir hoffen, mit diesen Vorschlägen Alternativen zu den angedachten Maßnahmen aufgezeigt zu haben und stehen gerne für weiteren Austausch zur Verfügung.

Vertreter*innen kindheitspädagogischer Studiengänge in Bayern

Katholische Stiftungshochschule München
Prof. Dr. Tina Friederich (Ansprechpartnerin für die Stellungnahme, tina.friederich@ksh-m.de)
Prof. Dr. Helga Schneider
Prof. Dr. Gabriel Schoyerer

Hochschule München
Prof. Dr. Helmut Lechner
Prof. Dr. Claudia Ueffing

Evangelische Hochschule Nürnberg
Prof. Dr. Tanja Brandl-Götz
Prof. Dr. Roswitha Sommer-Himmel

Technische Hochschule Nürnberg
Prof. Dr. Steffen Brockmann
Prof. Dr. Susanne Scheja

Technische Hochschule Rosenheim
Prof. Dr. Katharina Fischer

Internationale Hochschule (IU) (private Hochschule mit Angebot in München sowie digital)
Prof. Dr. Margarete Jooß-Weinbach

Diploma Hochschule (private Hochschule mit Angebot in München sowie digital)
Prof. Dr. Sabine Skall

 

23. September 2022

 

Verwendete Literatur
Anders, Yvonne (2013): Stichwort: Auswirkungen frühkindlicher institutioneller Betreuung und Bildung. Zeitschrift für Erziehungswissenschaft, 16/2, S. 237-275.
Autorengruppe Fachkräftebarometer (2021): Fachkräftebarometer Frühe Bildung 2021. München.
Bock-Famulla, Kathrin; Girndt, Antje; Vetter, Tim & Kriechel, Ben (2021a): Bayern (BY). In: Bertelsmann Stiftung (Hrsg.): Fachkräfte-Radar für KiTa und Grundschule 2021. Gütersloh.
Bock-Famulla, Kathrin; Münchow, Anne; Sander, Felicitas; Akko, Davin Patrick; Schütz, Julia (2021b): Länderreport Frühkindliche Bildungssysteme. Transparenz schaffen – Governance stärken. Gütersloh
Friederich, Tina; Hoch, Markus; Huschik, Gwendolyn & Weßler-Poßberg, Dagmar (2022): Karrierewege in der Kindertagesbetreuung. Eckpunkte für Curricula, Kosten und Renditen. Download unter https://bmfsfj-veranstaltungen.bafza.de/fileadmin/Redakteure/Veranstalt… (8.9.2022)
Grgic, Mariana (2019): Gekommen, um (nicht) zu bleiben. Download unter https://www.bpb.de/themen/bildung/dossier-bildung/300367/gekommen-um-ni… (8.9.2022)
Günther, Anna (2022): Bayern will Qualitätsstandards in der Kinderbetreuung lockern. Süddeutsche Zeitung vom 29. August 2022
Günther, Anna (2022): Scharfe Kritik an Bayerns Kita-Plänen. Süddeutsche Zeitung vom 30. August 2022.
Meyer, Nikolaus & Alsago, Elke (2021): Ergebnisse des Ver.Di Kita-Personalcheck. Alltag pädagogischer Fachkräfte in Kindertageseinrichtungen: den eigenen professionellen Ansprüchen nicht genügen können. Download unter https://sozialearbeit.verdi.de/++file++617be2ac1738c56d22cfc5c3/downloa… (8.9.2022)
Schoyerer, Gabriel; Ihm, Maria; Bach, Clarissa (2020): Fachkräftegewinnung und -bindung in der Kin-dertagespflege. Ergebnisse der wissenschaftlichen Begleitung des Bundesprogramms „ProKinderta-gespflege: Wo Bildung für die Kleinsten beginnt“. München.
Viernickel, Susanne (2021): Die empirisch gestützte Identifikation struktureller Qualitätsmerkmale und Standards in Institutionen frühkindlicher Bildung, Betreuung und Erziehung. In: Bilgi, Oktay u.a. (Hrsg.): „Qualität“ revisited. Theoretische und empirische Perspektiven in der Pädagogik der frühen Kindheit. Weinheim & Basel. S. 116-132.